Filmpolitischer Informationsdienst Nr. 230, Dezember 2012/Januar 2013

Von Michael Friederici

Unsereiner ist ja groß geworden mit dem guten Gewissen dass Kino klug macht und Fernsehen doof ist. Bis auf die Sportschau, Dominik Graf, Harald Schmidt und einige Tatorte natürlich. Dann war da noch das nervige Zwischenspiel mit Video und CD – und jetzt, da sich alle endgültig auf youtube und bei facebook zu Tode amüsieren, soll auf einmal Schluss mit den ehernen Gewissheiten sein. Ja, selbst die Fundamentalisten unter den Gegnern des US-Bilder-Imperialismus konstatieren, dass amerikanische TV-Serien an große Literatur gemahnen und sogar so etwas wie Konzentration verlangen und kein Bügeln nebenbei. Nur noch bildungsferne Sofakartoffeln gehen ins Popcorn-Kino, finden 3D-Spektakel, Fantasy und Videospiel-Verfilmungen eine Augenweide und glotzen auf die Liegestütze der Bohlens und Lanzens. Der coole Avantgardist fühlt sich bei Mad Men, den Sopranos oder The Wire zuhause. Als lässiger Serienjunkie fährt er ein Designer-Bike, hat als Austausch-schüler in Maine Englisch gelernt, spielt mit einem schnieken Apple-pod – und zieht sich seinen US-Serien-Stoff spätestens seit 24 und Sex in the City entweder von der DVD oder aus dem Netz. Selbst Intellektuelle haben auf einmal wieder Tele-Visionen und die knurrigsten Kultur-Spaßbremsen widmen sich in langen Feuilleton-Elogen mit einem Enthusiasmus Six Feet Under , The News Room, Game of Thrones, West-Wing… der früher einmal für Werner Herzog oder große Literatur reserviert war. Christoph Dreher beschrieb die „broadcast literature“ als „komplexe und profunde Werke, die zum ersten Mal in der Filmgeschichte so etwas wie ein Äquivalent zu großen epischen Romanen der Weltliteratur darstellen“ (Spex 07/2007). – Barbara Schweizerhof formulierte schon vor zwei Jahren, dass The Wire „weniger eine Polizeiserie als vielmehr der Roman einer Stadt“ ist (Gesendete Literatur, in: Der Freitag, 06.08.2010).

Nachdem jahrelang Heerscharen von Script-Gurus und ihren Propheten ihr Credo vom Plotten und Pitchen so erfolgreich verkauften, dass inzwischen jede Smartphonemessage nicht mehr ohne Turningpoints auskommt, dürfen jetzt auch wieder Menschen jenseits des werberelevanten Alters ungestraft davon sprechen, dass Episoden wie die Kapitel eines Buches funktionieren… Ja, man hört sogar die Signale, dass die neue Welle im alten Europa angekommen ist:: Die entsprechenden Workshop-, Trainingscamp- und Sommerlager-Angebote häufen sich. Das Erich-Pommer-Institut führte im European TV Drama Series Lab in amerikanische Kreativkonzepte ein, beim Hamburger Filmfest war Frank Spotnitz zu Gast, ein US-Autor/Produzent, der jetzt in London sitzt… (bekannt als Executive Producer and Head Writer der The X-Files) – und mittlerweile raunen selbst ergraute arthouse-Zausel unfallfrei vom Kraftwerk „Writers Room“ und „Show Runner“ – und stellen sich die DVD-Gesamtausgabe der Sopranos neben Benjamins Gesammelte Schriften. Schließlich schreiben die Autoren dabei im – darf man das wieder sagen? – „Kollektiv“ – und Regisseure genießen allenfalls noch den Status eines Rädchens im Getriebe. Nicht sie, Autoren sind es, die endlich am Steuer stehen, – der ShowRunner, um genau zu sein. Diese hybride Figur sollte beides vereinen, den Manager und den Künstler. Und wenn der toughe Frank Spotnitz in Hamburg vom ShowRunner als Autoren spricht, der Produzent zu sein habe, spätestens dann klingeln doch selbst dem geneigten Kulturindustrie-Anti die Ohren. Hallo? Erinnert sich noch jemand an Walther Benjamins Auseinandersetzung mit den sog. „Aktivisten“ aus dem Jahre 1934 unter dem Titel „Der Autor als Produzent“?

Bevor wir jetzt aber gemeinsam konspirativ die Faust in der Tasche ballen: Ja, das US-Fernsehen wird immer noch vom Kapital regiert und nicht von Politkommissaren. Aber die Qualitäts-Nachfrage-Trends sind derzeit, sagte Frank Spotnitz in Hamburg, „sehr, sehr positiv.“ Kabel, Pay-TV haben Akzente gesetzt, Internetanbieter und Video-on-Demand-Portale sind dabei, Amazon (lovefilm.de), die senderübergreifende Video-Plattform Hulu, apple, Bertelsmann, sogar der DVD-Service Netflix – und youtube will sein Angebot um professionell produzierten Original-Programminhalte erweitern. Alle wollen den Zuschauer binden. Die Lösung dafür, zumindest was Serien angeht, heißt Showrunner und Writersroom. Das unschlagbarste Argument, so Frank Spotnitz: “Ich kann die doppelte Qualität zum halben Preis liefern.“ Allerdings: Die Serien müssen sich schon universal verhökern lassen. Die ungewöhnliche Spionageserie Hunted produziert er von London aus für „cinemax“ in den USA und BBC 1; alle weiteren Rechte hat er noch zu vergeben… Er stellte zehn Minuten davon beim Filmfest vor. Ich erinnere mich an eine gutaussehende, schlagkräftige Protagonistin, die mit weiblicher Eleganz auch den Genickbruch beherrschte…

Forderungen nach einem Showrunner-/Writers Room-Modul in allen Filmhochschulen und Medienstudiengängen sind jetzt allerdings verfrüht: Die beiden Handwerkszeuge sind auf dem und für den amerikanischen Markt mit globaler Perspektive entwickelt. Am Anfang der Serienqualitätsrevolution stand HBO, was für Home Box Office steht und sehr frei übersetzt soviel heißt wie „Kino zu Hause“. . „It’s not TV, it’s HBO“, lautete denn auch der selbstbewusste Slogan des Senders. 1972 gegründet und ab 1975 populär durch Sportübertragungen, wie den„Thrilla in Manila“ (der legendäre Kampf Ali gegen Frazier) verfolgte der Sender die unverschämte Programmstrategie: Hochwertige Kinofilme und besondere (Sport-)Ereignisse ungekürzt und ohne Werbeunterbrechungen zu zeigen. 1983 strahlte HBO den ersten Fernsehfilm eines Kabelsenders aus und verschlüsselte 1986 als erster Sender sein Signal digital. Auf die Verbreitung von VHS (von 1976 an) und Videorecordern reagierte HBO mit verstärkten Eigenproduktionen. Jeffrey Bewkes, damals neuer HBO-Chef, wollte eigene Inhalte mit einem „kühnen, gänzlich anderen Fernsehen“. Dazu organisierte er ein offenes Betriebsklima für die Kreativen – und nicht für Controller. Bewkes schwebten Serien vor, die Abonnenten Woche um Woche zum Sender zurückkehren ließen. Die erste dieser Art war Oz, in einem Hochsicherheitsgefängnis angesiedelt. Sie lief von 1997 an – 20 Jahre nachdem Nina Hagen Ich glotz TV herausgeschrien hatte. Oz war Sprengstoff für die bis dahin gewohnten Serien-Formate. Die Autoren bekamen Zeit, ihre Geschichte, die Charaktere zu entwickeln. Als reiner Abonnentensender unterstand HBO zudem keiner Einschränkung der FCC (Federal Communication Commission), und konnte die Protagonisten ungeniert von Fuck, Shit, Piss, Cunt usw. knödeln lassen, Sex und Gewalt zeigen. Die Macher setzten die neuen Möglichkeiten souverän um, bauten Schräges, Tabus in hochwertige Erzählungen. Damit erschütterten sie das eherne Gesetz von Medienwissenschaft und -business, dass „der“ Zuschauer nur Unterhaltung will, die ihn aus dem Alltag holt.

Das Thesenpapier „zur Optimierung bei Fernsehfilm und Hauptabendserie“, gilt doch wohl bis heute als gültiger Ansatz, den die Konferenz der ARD-Programmdirektoren damals, zur Jahrtausendwende „zustimmend zur Kenntnis“ nahm (an die „Süßstoffdebatte“ wurde ja während des gerade abgeschlossenen Prozesses gegen Doris Heinze erinnert). Filme und Serien sollten, heißt es darin, „möglichst Generationen übergreifend“ sein, die „Erzählweise“ „durchgängige Verständlichkeit“ beinhalten, „unkompliziert, einfach, klar, auf keinen Fall verwirrend“ sein, das Milieu „attraktiv, interessant, zumindest nicht abstoßend“… Zu vermeiden sind „vermeintlicher und verquaster Tiefsinn, Unverständlichkeit…“ oder „unverständliche, unattraktive Anfänge“. – Hat schon einmal jemand versucht, einem deutschen Fernsehredakteur die Geschichte von einem krebserkranken Highschool-Lehrer um die 50 zu pitchen, der ins Drogenmilieu einsteigt, damit seine Familie nach seinem Tod finanziell abgesichert ist? (Breaking Bad) Oder: Ein Mann im mittleren Alter versucht seine nervenden Kinder zu aufrechten Persönlichkeiten aufzuziehen und seine Familie einigermaßen zusammenzuhalten, nur ist er der lokale Mafia-Boss und auch noch in Therapie (Sopranos). Die Debatten um den spätnächtigen Sendetermin der Sopranos im ZDF sind ja sicher noch erinnerbar. – Ach ja: Oz endete 2003, nach 56 Episoden a`55 Minuten in sechs Staffeln. 1998 startete Sex and the City, ein Jahr später The Sopranos. Den Erfolg bei der Kritik übertraf man noch mit The Wire (Start: 2002).

Anders als für die Networks zählt für HBO und Konsorten Profil und nicht Quote. Gute Kritiken steigern das Image des Senders, und damit die Abo-Zahlen, DVD- und online-Verkäufe. Die Folge: ein anderes Erzählen anderer Inhalte. Und das Publikum goutiert selbst nahezu radikale Stoffe. Denkverbote, Storygrenzen gibt es ebenso wenig wie Angst vor visuellen und erzählerischen Experimenten oder ungewöhnlichen Serienformaten. Dazu kommt, dass HBO Gesamtprogrammpakete verkauft, mithin mischkalkuliert; womit einzelne Serien nicht dem Quotendruck werbeabhängiger Sender unterliegen. Um die Euphorie noch ein wenig zu erden: Die enthusiastische Aufnahme einer Serie wie The Wire bei der Fernsehkritik stand in keinem Verhältnis zur tatsächlichen Publikumsresonanz. Die durchschnittliche Quote von The Wire soll bei 2,8 bis 3 Millionen Zuschauer gelegen haben. Ein Blogger hat dies einmal auf die Größe des deutschsprachigen Fernsehmarktes übertragen und kam auf eine Einschaltquote von 400.000 Zuschauern. Das wäre nicht einmal eine Nische. – Und: Auch die vermeintlich unbeweglichen Networks setzten Standards mit innovativen Serien wie Seinfeld. Hill Street Blues (NBC), NYPD Blue (abc) sind keineswegs nur Who-done-it-Schlichtheiten. Frank Ketteler nannte Lost (abc) „bislang eines der größten und einfallsreichsten Erzählexperimente des 21. Jahrhunderts.“ (FAZ, 03.02.2012)

In all diesen Serien müssen Autoren nicht mehr alle Fragen innerhalb einer Episode beantworten. Der Showrunner hält die Fäden zusammen. Er ist traditionell Erfinder oder Miterfinder einer Serie, hat das Konzept entwickelt und verkauft, mindestens die erste Folge selbst geschrieben; er ist derjenige, der die Autoren zusammenhält, die visuelle Anmutung profiliert, beim Casting ebenso mitspricht wie bei der Kamera, der dafür sorgt, dass die Bücher pünktlich fertig sind und das Gesamtbudget im Auge hat, kurzum: Eine multiple Persönlichkeit die kreiert, verkauft, entwickelt, produziert – und den Weltmarkt kennt. Frank Spotnitz ist einer dieser ungewöhnlichen Typen. Verquere Künstleregos, sagt er, sind hier nicht gefragt, sondern Teamplayer. Das Produkt, nicht „der Autor“ oder dessen Selbstverwirklichung steht im Vordergrund. Emmo Lempert, Geschäftsführer von Studio Hamburgs Serienwerft, hob in einem Interview die positiven Aspekte des Schreibens im »Writers Room« auch für den deutschen Markt hervor. Bisher werde dieser in Deutschland nur in den täglichen Serien und Weeklies (z.B. Hinter Gittern) praktiziert. – Borgia hatte einen richtigen Showrunner, Tom Fontana, Autor, Produzent und Erfinder von Oz.

Trotz alledem: In Europa, in Deutschland sind insbesondere die medialen Bedingungen andere als in den USA. Welcher deutsche Entscheider traut sich insbesondere in finanzknappen Zeiten die Mehrkosten einer Stoff-Entwicklung mitzutragen, im Hinblick auf einen möglicherweise zu erwartenden Image-Gewinn? Warum müssen interessante Einkäufe bei „neo“ oder im Spätprogramm versteckt werden? Medienforscher Lothar Mikos vom Erich Pommer Institut meinte in einem Interview („Warum sind deutsche Serien so mies“, SpiegelOnline, 03. 04. 2012): „: Das Publikum in Europa teilt sich auf in eine ältere Generation, die nationale Produkte goutiert, und in eine jüngere Generation, die fast komplett mit US-Serien aufgewachsen ist und andere Erzählweisen schätzt. Es ist ja kein Zufall, dass die starken US-Formate in Deutschland fast ausnahmslos auf Privatsendern zu sehen sind – weil hier die jüngeren Zuschauer einschalten. Bei ARD und ZDF laufen hingegen vor allem traditionell erzählte Produktionen.“ Pro7Sat1 schlug jüngst bei Homeland zu und will die Serie von 2013 an ausstrahlen. „Für die Fernsehbeamten bei ARD und ZDF, die ihr Publikum lieber mit jahrzehntealten Krimi-Reihen sedieren, kommt ‚Homeland’ … nicht in Frage: zu schlau, zu schnell, zu ambivalent“, schrieb Martin Wolf im Spiegel (40/2012).

Ob allerdings die Installierung von Showrunnern oder Writers Rooms an diesen Zuständen etwas ändert bleibt abzuwarten. Bei aller verständlichen Euphorie über die US-Serien: Warum sollte jemand Jeans kopieren, wenn man gute Originale in den USA und in England kaufen kann? – Nur in den alten Serienklassikern funktioniert das nicht. In einem Witz treffen sich Öl-Baron J.R. Ewing (Dallas) und Blake Carrington (Denver Clan). Knurrt J.R. Ewing: „Ich bin so reich, dass ich die ganze Welt kaufen könnte.“ Retourniert Blake Carrington: „Ich verkaufe nicht.“